Post-Beschleunigungs-Städtebau | Manifest

Wir stehen am Ende einer über 70-jährigen Epoche, der „Großen Beschleunigung“, in der sich der menschliche Einfluss auf die Umwelt beispiellos beschleunigt hat, getrieben durch technische Entwicklungen, wirtschaftliche Interessen und damit verbundene Ideologien. Das Fanal dieser Zeit ist gekommen, wie bereits vor mehr als 40 Jahren vom „Club of Rome“ prognostiziert: Wir erleben eine weltweite Krise der Ökosysteme und damit den sukzessiven Verlust unserer Lebensgrundlagen.

Die globale Erwärmung ist dabei nur eine von vielen Folgen eines Lebensstils, der seine negativen Auswirkungen in andere Regionen und Länder verlagert. Dieser Lebensstil lässt sich auch nicht mit technischem Wandel oder einem „grünen Wachstum“ weiterführen, und seine Folgen beginnen schon jetzt die Hauptverursacher – uns – einzuholen. Daher muss und wird sich unsere Lebensweise radikal ändern – aus ökologischen, moralischen und schlussendlich auch ökonomischen Gründen. Einen radikalen Wandel weg von einer weiteren Beschleunigung zu fordern, ist nicht ideologisch, sondern höchst rational. So müssen Auto- und Flugverkehr stark reduziert werden, die Ernährung anderen Imperativen folgen, das Wachstum des BIP oder des DAX nicht mehr mit Fortschritt gleichgesetzt werden. Unsere Gesellschaften müssen sich neu erfinden.

Im Zentrum dieses Prozesses steht das Projekt der egalitären Stadt, dessen Weiterentwicklung unsere Kernaufgabe als Professur für Städtebau der TU München ist. Denn unsere Städte leben von Offenheit, Chancengleichheit, von der Wertschätzung des öffentlichen Guts und des öffentlichen Raums, und dem gestalterischen Ausdruck dieser Werte. Um diese Eigenschaften in der kommenden Krise zu erhalten, muss diese – auch ästhetisch – antizipiert werden, zugleich aber Strategien entwickelt werden, wie diese Offenheit erhalten bleiben kann.

Es liegt in der Verantwortung der Politik, den bevorstehenden Wandel einzuleiten, indem sie die Rahmenbedingungen mutig verändert und der Bevölkerung den existenziellen Charakter der gegenwärtigen Situation vermittelt. Unser Beitrag besteht darin, aus dem städtebaulichen Blickwinkel die Situation zu benennen, Wissen zu erarbeiten, und Wege aufzuzeigen, wie die europäischen Städte auf andere Art und Weise weiterentwickelt werden können. Der Post-Beschleunigungs-Städtebau wird gerade erst erfunden und entdeckt.

Wir bauen dafür ein Netzwerk aus Verbündeten auf, mit denen wir gemeinsam an Projekten und Allianzen arbeiten. Zudem bereiten wir die nächste Generation von Architektinnen und Städtebauern auf die kommenden Veränderungen vor. Dafür müssen wir auch selber Pioniere für den neuen Lebens- und Arbeitsstil werden.

Mit der Neubesetzung der Professur für Städtebau der TU München lancieren wir dafür das „Labor für die Alltägliche Stadt“. Denn wir stehen am Beginn einer neuen Epoche und damit einer neuen Art und Weise, wie unser Alltag organisiert wird. Dies kann – immer noch! – dazu führen, dass es mehr Menschen besser gehen wird. Das Labor ist Experimentalraum dieses neuen Alltags und steht als Verbündete allen offen, die diese positive Gestaltung der neuen Epoche mit uns zusammen angehen wollen. Dabei ist auch die Arbeitsweise des Labors selbst ein Experiment, das wir dokumentieren.

Im Labor arbeiten wir nach folgenden Grundsätzen:

  • Wir machen unsere Arbeitsweise transparent und arbeiten auch in der Veröffentlichung unserer Ergebnisse nach dem „open source“-Prinzip

  • Wir geben jährlich Rechenschaft über die Auswirkungen unserer Tätigkeit auf den Planeten und bauen Partnerschaften mit Kompensationsprojekten auf

  • Als Professur fliegen wir möglichst wenig und dann gar nicht, wenn wir ein Ziel in weniger als zehn Stunden mit dem Zug erreichen können

  • Wir lehren und fördern kooperative Ideen und Prinzipien der Mitbenutzung als wichtige Kenntnisse für die Zukunft

  • Wir arbeiten im öffentlichen Raum und beziehen die Öffentlichkeit mit ein

  • Wir bekennen uns zur Stadt München als Gemeinwesen und arbeiten an konkreten Veränderungen vor Ort

  • Die Suche nach dem neuen Alltag verknüpfen wir stets auch mit gestalterischen und stadträumlichen Fragen.

Diese Grundsätze werden hinterfragt, erweitert und verändert. Denn wir schreiben zwar Manifeste, dogmatisch sind wir deshalb aber noch lange nicht!

Das Labor für die Alltägliche Stadt
April 2019