Die Erfindung des Alltäglichen

Städtebauliches Entwerfen

Sommersemester 2022

Prof. Benedikt Boucsein, Matthias Faul, Isabel Glogar, Maria Schlüter, Magdalena Müller, Robert-Christopher Tubbenthal

Alle Besprechungen und Kritiken erfolgen im Studio.
Acht Gruppen werden bei den Entwurfsbetreuungen teilweise über Zoom betreut. Die restlichen Gruppen live.

Fundament
Wie kann ein Grundkurs zum Städtebau auf die Zukunft hinarbeiten, wenn diese vor unseren Augen im Lichte simultan stattfindender schwerer Krisen zu verschwinden droht? Wie können wir uns auf eine Umbruchszeit vorbereiten, in der viele der heutigen Gewissheiten, Techniken und gesellschaftlichen Praktiken verschwinden und durch neue ersetzt werden? Was sind die Aufgaben, was die Arbeitsmittel der nächsten Jahrzehnte, und wo liegt die Verantwortung der einzelnen Architektin, des einzelnen Architekten?

Während in unserer Entwurfsklasse keine umfassenden Antworten auf diese Fragen gegeben werden können, kann die Auseinandersetzung mit dem Städtebau doch dazu dienen, sie erstmals auf dem größeren Maßstab entwerfend in den Blick zu nehmen und als Gruppe dazu Position zu beziehen. Die sich heute dringend stellenden fundamentalen Fragen dienen uns als Mittel, um die Stadt zu entdecken und schließlich zu entwerfen – (neu) zu erfinden. Inzwischen ist allen klar: Das 21. verläuft radikal anders als das 20. Jahrhundert. Und die Veränderungen werden sich in Anbetracht sozialer und ökologischer Herausforderungen weiter verstärken. Gewissheiten, Techniken und gesellschaftliche Praktiken werden verschwinden. Neue Gewohnheiten, Formen des Zusammenlebens müssen ausprobiert werden und sich etablieren. Dies wollen wir im Kurs gemeinsam angehen, denn unsere Aufgaben als ArchitektInnen und StädtebauerInnen werden sich ebenfalls verändern.

 

Alltag
Grundthema unserer gemeinsamen Entdeckungsreise ist das Alltägliche. Nur in den seltensten Fällen geht es im Städtebau um wichtige öffentliche Räume, um „besondere“ Orte. Meist geht es um das, was um diese Orte herum geschieht. Städtebau ist die Kunst, den Alltag zu erfinden. Das individuelle Projekt soll sich daher zunächst aus den Gegebenheiten des Ortes herleiten und sich dann in Richtung der begründeten Zukünfte und Vorstellungen durch die Teilnehmer*innen entwickeln.

Dabei legen wir nicht von vorneherein ein Grundstück fest. Sondern nur drei Orte. Dann sind die Gruppen frei: Es kann z.B. ein neues Zentrum entwickelt, ein Wohnquartier umgestaltet, eine Straße von Autos befreit, ein Park mit neuer Randbebauung entworfen, eine Schule zum öffentlichen Ort verwandelt werden. Wichtig ist, dass klar ist, warum wir was machen, warum wir was auslassen, und dass der Dialog mit den anderen Interventionen gesucht wird. Das didaktische Konzept des Kurses unterstützt dies und leitet schrittweise auf sinnvolle städtebauliche Interventionen hin.

 

Statement
Komplementär zur Entwurfsklasse und in Ergänzung zu den methodischen Werkzeugen der Vorlesungen von Michaeli und Krucker/Bates werden im Vorlesungszyklus „Das Projekt der egalitären Stadt“ mit Exkursen in acht europäische Städte die Genese wichtiger städtebaulicher Konzepte erläutert. Die egalitäre Stadt ist das wohl wichtigste Motiv des modernen Städtebaus und wurde immer wieder unterschiedlich interpretiert. Heute sind wir mit vielen ihrer Fragmente konfrontiert und dazu aufgefordert, diese weiterzuarbeiten.

Unsere Professur möchte Sie herausfordern: Entwerfen Sie ein städtebauliches Projekt, aber entwerfen Sie auch ein Statement - das mit dem Projekt natürlich unmittelbar zusammenhängen kann. Wir möchten Ihnen damit die Chance geben, im Studium Ihre Position - auch uns gegenüber - zu schärfen. Wir möchten, dass Sie uns mitteilen, warum Sie Architektur studieren, wie Sie sich in die Gesellschaft einbringen wollen, wie Sie Zukunft gestalten wollen. Vielleicht wissen Sie dies schon. Vielleicht finden Sie es im Laufe des Semesters gemeinsam heraus.

Ihre Aufgabe ist also kein Raumprogramm, wir geben Ihnen keine Quadratmeter und auch keine Dichteziffer vor. Die von Ihnen vorgeschlagene Transformation soll sich zuerst aus den Gegebenheiten des Ortes und Ihren Vorstellungen für die Zukunft herleiten.

 

Orte
Wir werden dazu an drei Orten in Münchens „Speckgürtel“ arbeiten, die Transformationspotenzial haben oder sich schon in der Transformation befinden: Langwied und Lochhausen, die sich noch auf Münchner Stadtgebiet befinden, und Gröbenzell, eine an München grenzende Gemeinde. Wir möchten, dass Sie diese Orte verstehen und zum Schauplatz Ihrer Intervention machen. Wie diese Intervention aussieht, bestimmen wir gemeinsam im Zuge des Semesters.

Im „Speckgürtel“ herrschen spezielle Rahmenbedingungen. Welcher Wachstumsdruck herrscht am Stadtrand? Wie und wo wird gearbeitet? Wie lernen die Kinder und wie werden die Älteren versorgt? Wie sind die Mobilitätsangebote ausgebaut? Wer nutzt den öffentlichen Raum, und wie? Welche Rolle spielen grüne Freiräume? Kann zukünftig ein 10 qm großes Objekt einfach dort abgestellt werden? Wie bewegen wir uns fort und wie verändert das unsere täglichen sozialen Interaktionen? Sind die aktuellen Wohntypologien und Wohnmodelle noch zeitgemäß? Wie kann man im Speckgürtel flächensparend und nachhaltig bauen und wohnen?

Wir nähern uns dem Ziel dabei über mehrere Komplexitäts- und Maßstabsstufen: Vom kleinmaßstäblichen Eingriff in einer ersten Übung - so klein wie eine Bank, ein Baum, ein Fenster… -, der konkrete Auswirkungen auf seine städtische Umgebung hat, bis zum letztlichen Projekt, mit dem das ganze Quartier verändert werden kann.

 

Gruppen und Ablauf des Semesters

Während des Semesters wird in 2-er Gruppen gearbeitet.

Nach einer Übung, die auf eine gedachte Intervention am Ort abzielt, und der gemeinsamen Quartiersanalyse werden die jeweiligen Konzepte bearbeitet. Diese werden aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet und gegen Ende des Semesters immer konkreter. Es wird mit unterschiedlichen Diskussions- und Präsentationsformaten experimentiert, da auch in der Realität nicht die Frontalpräsentation das einzige Format ist. So findet die Schlussdiskussion als „Jurysitzung“ statt, um gemeinsam dieses für unsere Baukultur wichtige Format kennenzulernen.