Lost Heroes. Socialist Modernism?
Die Mitte Europas liegt da, wo viele im Westen das östliche Ende der Zivilisation verorten. »Die wahre Tragödie Mitteleuropas« hielt Milan Kundera 1983 fest »ist [...] nicht Russland, sondern Europa.«[1] Westeuropa. In seinem Essay Der entführte Westen schreibt Kundera dagegen an, dass die Länder Mitteleuropas von den Karten des Westens verschwunden sind. »Einige Nationen, die sich immer für westlich gehalten hatten, wurden eines schönen Tages wach und mussten feststellen, dass sie im Osten lagen.«[2] Gekidnappt (so die Formulierung im französischen Original) wurden sie nach dem Zweiten Weltkrieg durch Stalin. Die Tragödie wiederum besteht darin, dass die Spaltung der Mitte Europas durch die westeuropäischen Staaten weitgehend akzeptiert wurde. Der Westen definierte sich als Europa, indem er den vermeintlichen Osten – eigentlich die Mitte Europas – aus der europäischen Familie ausschloss.
Wenn wir die Geschichte der Architekturmoderne im 20. Jahrhundert erzählen, so folgen auch wir zumeist dieser Prämisse. In unserer Meistererzählung wird die Nachkriegsmoderne primär mit dem Westen gleichgesetzt. Die Moderne an sich, so die implizite Behauptung, ist eine Architektur der Freiheit, des kritischen Verständnisses und der Selbstermächtigung. Marktwirtschaftlich geprägt und gleichzeitig sozialstaatlich kontrolliert. Für die jüngere Architekturgeschichte wie für die Anerkennung, Bewertung und Erhaltung des baulichen Erbes der Nachkriegszeit stellt sich die Frage, ob Label wie ›Ostmoderne‹, ›sozialistische Moderne‹ oder ›Sowjetmoderne‹ nicht genau die von Kundera attestierte falsche Zuschreibung zum ›Osten‹ fortschreiben – und damit den Ausschluss aus einer vermeintlich westeuropäisch geprägten Moderne. Das bauliche Erbe des letzten Jahrhunderts in Mitteleuropa wird damit als Derivat und Nachahmung westlicher Vorbilder, als Verfremdung modernistischer Ideale durch die realsozialistischen Wirklichkeiten, als andere, jedenfalls nicht gleichwertige Moderne kategorisiert.
Warum sollte man Kunderas These nicht auch in der Architektur nachspüren können? Kulturelle Explosion als oppositioneller Akt gegenüber dem Imperium. »Maximale Vielfalt auf minimalem Raum« gegenüber »minimaler Vielfalt auf maximalem Raum« – die Oppositionen Kunderas lassen sich auch auf die Optionen der Architekturmoderne übertragen.[3] Dieses Heft umschreibt eine Leerstelle, die wundersame Welt im Herzen Europas. Das Erbe der Modernisierung Mitteleuropas in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts wird nicht mehr unter geographischen Koordinaten, unter dem Label ›sozialistisch‹ oder gar ›sowjetisch‹ zu finden sein. Es ist ein europäisches Erbe. Noch ist es nicht verloren.
Die Ausgaben sind über den Online-Shop des Geymüller Verlags und den Buchhandel erhältlich. Der Kauf von Heften am Lehrstuhl ist ausschließlich für Studierende der TUM möglich.
halten, Beiträge zum neueren Bauerbe
Lost Heroes
Ausgabe #4
Hg.: Prof. Dr. Andreas Putz
Professur für Neuere Baudenkmalpflege
Technische Universität München (TUM)
Verlag: Geymüller
ISBN: 978-3-943164-60-2
[1] Kundera, Milan: »Der entführte Westen oder Die Tragödie Mitteleuropas« [frz. Original »Un Occident kidnappé ou la tragédie de l’Europe.« In: Le Débat 1983]. In: Ders.: Der entführte Westen. Die Tragödie Mitteleuropas [aus dem Französischen von Uli Aumüller]. Zürich 2023, S. 79.
[2] Ebd., S. 45.
[3] Ebd., S. 51–52.