Stadtteillabor an der Trabrennbahn

freie Masterthesis (SS20)
Verfasser*innen: Tanja Gerum

Meine Recherche und ersten Überlegungen zum Thema Stadtteillabore fanden bereits vor Beginn der Covid-19-Pandemie statt. Urban Living Labs, bzw. Stadtlabore repräsentierten für mich damals ein relativ neues Konzept, dessen praktische Umsetzung in der Zukunft liegt und dessen Ansatz vielleicht etwas zu utopisch für den damaligen Kontext und seinen festgefahrenen Strukturen wirkte. Komplexe Akteurskonstellationen und langwierige Diskurse passten nicht in das System der optimierten Spezialisierung und zeiteffizienten Verfahrensmethodik.
Doch dann wurde mit dem Auftreten der Covid-19-Pandemie dieses bereits seit Jahren festgefahrene System plötzlich in Frage gestellt und mit der Ausnahmesituation zudem der Wirkmechanismus eines Stadtteillabors erstmals deutlich gemacht. Interdisziplinäre Aushandlungsprozesse und das Erproben von Lösungen in einem (bundes-)landesweiten Testfeld sind nun Teil der gängigen Vorgehensweise während der Covid-19-Pandemie.
Abgesehen von den wissenschaftsspezifischen Virologen und Pandemologen, gibt es keine Spezialisten für diese gesellschaftliche Ausnahmesituation, welche wie zuvor oftmals üblich selbstbewusst Lösungen vorgeben können. Regierungen und andere als richtungsweisend eingeschätzte Institutionen gestehen ihre Unwissenheit und Fehlbarkeit ein. Gängige einschlägige Maßnahmen wirken zwar noch immer sehr schnell, erweisen sich jedoch auf Dauer weder nachhaltig noch tragbar. Umfassende Lösungen und Maßnahmen können nur in einem gemeinsamen Diskurs und unter Einbezug der verschiedensten Disziplinen gefunden werden - jeder ist gefragt in dieser gemeinsamen Ersterfahrung. Es findet eine neue Aushandlung des Alltags und des Zusammenlebens statt, bei der theoretisches Fachwissen und praktisches Handlungswissen kombiniert werden und dadurch vor allem soziale Innovation geschaffen wird. Die soziale Innovation ist ein wichtiger Faktor, um komplexe gesellschaftliche Herausforderungen und Transformationsprozesse ganzheitlich zu bewältigen, da sie es ermöglicht, deren Auswirkungen mittels neuer Praktiken in lokale Gegebenheiten und den Alltag zu übersetzen. Krisen können somit vor allem über die koproduktive Zusammenarbeit unterschiedlicher Disziplinen nachhaltig überwunden werden.
Dieser Bruch mit dem starren System und seinen durch Spezialisierung aufgeteilten Fach- und Handlungsbereichen, schafft zudem Platz für Unreguliertes. Neue Akteur*innen können im städtischen Raum mittels Interventionen wirkmächtig mit der (veralteten) Ordnung interagieren und interdisziplinäre Koalitionen über die Erweiterung ihres gemeinsamen Kompetenzpools vor allem Innovation schaffen. Auch die Zivilgesellschaft nimmt sich und ihre Bedeutung, insbesondere in Städten, wieder mehr wahr und erweist sich vielerorts gegenseitige Solidarität und Selbsthilfe.
Ein Diskurs interdisziplinärer Akteur*innen auf Augenhöhe, sowie das Erproben von Maßnahmen in einem Testfeld, um (soziale) Innovation zu fördern, sind die Hauptmerkmale eines Stadtlabors. Es wäre nun an der Zeit, diesen eingestimmten „Zeitgeist“ über die Verortung dieser interdisziplinären Aushandlungsprozesse in Plattformen zu festigen und auch für die Zeit nach der Covid-19-Pandemie zu sichern. Als städtische Institution mit festgelegter Agenda, kann das Stadtteillabor den gleichberechtigten Zugang für alle gewährleisten, einen interdisziplinären Diskurs koordinieren und somit soziale Innovation im Viertel fördern. Außerdem kann das Stadtteillabor über seine nachbarschaftlichen Selbsthilfenetzwerke und nutzerzentrierten Maßnahmenfindung die Kommune in ihrer verwaltenden Funktion in Zukunft (auch finanziell) entlasten. Nicht zuletzt kann ein andauernder Stadtteillaborprozess die ökologische, finanzielle und soziale Resilienz im Viertel stärken, was vor dem Hintergrund von weiteren gesellschaftlichen Umbrüchen und Krisen (insbesondere der Klimakrise) von enormer Bedeutung ist.